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Von Celia Sudhoff
Seit ein paar Wochen debattiert Deutschland intensiv über den Sozialstaat. Auslöser war dafür die Aussage von Kanzler Merz beim NRW Landesparteitag der CDU in Bonn Ende August: „Wir können uns dieses System, das wir heute so haben, einfach nicht mehr leisten“. Konkret möchte er das Bürgergeld kürzen und die Rentenkassen entlasten indem arbeiten bis ins (hohe) Alter attraktiver wird.
Doch nicht nur hierzulande steht der Sozialstaat unter Druck, sondern auch in anderen wirtschaftsstarken Ländern – unabhängig davon, welches politische Lager regiert. In Großbritannien nahm die Labour Partei drastische Kürzungen im Sozialbereich, insbesondere bei der Unterstützung von Menschen mit Behinderung, erst nach intensiven Protesten wieder zurück. Die von US-Präsident Trump verabschiedete „Big Beautiful Bill“, welches das größte Sozialkürzungspaket in der Geschichte des Landes ist und insbesondere Programme für wie Medicaid und Lebensmittelhilfe (Supplemental Nutrition Assistance Program, SNAP) kürzt, gefährdete die Gesundheitsversorgung von Millionen Bürger*innen. Richtet man den Blick weltweit wird deutlich, trotz einzelner Fortschritte, leben global noch immer mehr als eine Milliarde Menschen in Armut und zwei Milliarden Menschen ohne soziale Absicherung. Das hat verheerende Folgen für die Situation der Menschen vor Ort, für ihre persönlichen oder familiären Aufstiegschancen und es steht auch im Widerspruch zu den Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030.
Was kann der zweite Weltsozialgipfel leisten?
In dieser kritischen Lage trifft sich die Weltgemeinschaft 30 Jahre nach dem ersten Weltsozialgipfel in Kopenhagen in 1995 im November 2025 in Doha, Qatar, zum zweiten Weltgipfel für soziale Entwicklung (WSSD2). Diese Tendenz zur Kürzung sozialer Absicherung macht es umso wichtiger, dass die UN in Doha ein starkes Signal für soziale Rechte setzt. Damals wie heute sind die politischen Vorzeichen von sozialer Ungleichheit und Druck auf Sicherungssysteme geprägt. Entgegen dieser Dynamik wollen die teilnehmenden Staaten sich erneut zu der Kopenhagener Erklärung und ihrem Aktionsprogramm bekennen, sowie der Umsetzung der sozialen Ziele der Agenda 2030 neuen Schwung verleihen. Ob der WSSD2 diese hohen Erwartungen erfüllen und sozialpolitische Frage wieder höher auf die globale Agenda bringen kann, bleibt abzuwarten.
Erste Hinweise auf den möglichen Erfolg des Gipfels liefert die in der letzten Woche verabschiedete und veröffentlichte „Doha Political Declaration of the “World Social Summit” under the title “the Second World Summit for Social Development”. Nachdem ein zweites Umlaufverfahren („silent procedure“) ohne Änderungsvorschläge zu Ende gegangen ist („silence was not broken“), wurde die finale Version der Doha Erklärung am späten Freitagabend, 05.09.2025, veröffentlicht.
Der WSSD2 verspricht Aufbruch, liefert aber bislang nur kleine Schritte
Grundsätzlich ist die Einigung auf eine politische Erklärung als positiv zu bewerten. Zwar war das Umlaufverfahren erst im zweiten Anlauf erfolgreich, die Veränderungen sind jedoch marginal. Nachdem geplante Abkommen, wie das Plastikabkommen oder das Pandemieabkommen nach langen Verhandlungen nicht zustande gekommen sind und die USA sich aus immer mehr Prozessen zurückzieht, kann allein schon die einstimmige Annahme eines Textes als Erfolg bezeichnet werden.
Angesichts der Spannungen in der multilateralen Zusammenarbeit ist auch das klare Bekenntnis zur Umsetzung der Kopenhagener Erklärung von 1995 und der Agenda 2030 eine Errungenschaft. Der Text erwähnt und unterstützt zudem weitere wichtige Verträge, wie das Pariser Klimaabkommen (2015) und Sevilla Commitment (2025) und die Rio-Deklaration (1992) und Addis Ababa Action Agenda (2015). Das unterstützt bisherige Beschlüsse und Fortschritte.
Erleichterung gibt es auch bei der Follow-up-Period. Zu Beginn der Verhandlungen war unklar, ob alle 5, 7 oder 10 Jahre eine Evaluation der Fortschritte erfolgt. Nun ist klar, alle 5 Jahre, beginnend 2031, sollen die Fortschritte bei den Zielen das Kopenhagener und Doha Erklärung besprochen werden und das Bekenntnis zu den Zielen erneuert werden
Warum die politische Erklärung von Doha ein wichtiges Signal ist – und warum sie nicht reicht
Aber damit endet die Liste an positiven Aspekten schon wieder. Der Rückbezug auf Kopenhagen ist wichtig, allerdings nicht adäquat um den aktuellen Herausforderungen zu begegnen. Klimawandel, Digitalisierung, Kriege, Migration und Pandemien haben die Welt seit 1995 stark verändert. Daher hätte die Doha-Deklaration nicht nur die Chance, sondern auch die Pflicht gehabt ambitioniert nach vorne zu gehen. Aber ein neuer ganzheitlicher Ansatz, zum Beispiel ein neuer Eco-Social Contract, der die Bedürfnisse nach sozialer Entwicklung, ökonomisch-technischem Fortschritt und die Bekämpfung der planetaren Krisen ausgeglichen behandelt, fehlt.
Insgesamt ist der Text zudem sehr unkonkret. Es fehlen quantitativ messbare Ziele. Auch bei Fragen der Finanzierung gibt es Kritik was insbesondere beim Abschnitt zur Gesundheitsversorgung (Paragraph 6g) auffällig wird, welcher „public-private partnerships“ (PPP) als einziges konkretes Beispiel zur Finanzierung von Gesundheitssystemen nennt. Jedoch sind private Finanzierungen nicht immergeeignet, um Fortschritte beim Schutz der Menschenrechte zu erzielen.
Gewinnorientierte Investitionen verbessern die Lage vielfach nicht, sondern sorgen für Verschlechterungen oder im schlimmsten Fall sogar für Menschenrechtsverletzungen. Eine Studie von Oxfam aus dem Jahr 2023 zeigt eindrücklich, dass die Zusammenarbeit von europäischen Entwicklungsbanken mit privaten Gesundheitsdienstleister im Globalen Süden nicht etwa zu einer besseren und günstigeren Gesundheitsversorgung beiträgt, sondern Armut und Ungleichheit verstärkt.
Unkonkret bleibt der Text auch wenn es um ökonomisch nachhaltiges Wachstum, volle Beschäftigung und faire Arbeitsbedingungen geht (Paragraph 3f). Es wird zwar explizit über die Verantwortung bzw. das verantwortungsbewusste Handeln von Unternehmen gesprochen („in line with […] international standards and frameworks“), aber er verpasst die Chance, verbindlichen Regelungen für Unternehmen mehr Gewicht zu verleihen. Ein konkreter Rückbezug auf die seit 2014 laufenden Verhandlungen zu einem UN-Vertrag zu transnationalen Unternehmen und Menschenrechten hätte dem Prozess stärken können. Gleichzeitig wäre es ein klares Bekenntnis gewesen, dass aktuelle Regelungen, seien sie national (Frankreich/Deutschland/Brasilien), regional (EU Corporate Sustainability Due Diligence CSDDD) oder freiwillig (UNGPs), nicht ausreichen um die Lücke im internationalen Recht zu schließen und die Straffreiheit von transnationalen Konzernen zu beenden. Dafür braucht es ein verbindliches globales Abkommen.
Weitere wichtige Forderungen der Zivilgesellschaft wurden ebenfalls kaum berücksichtigt. So hätten die Bekenntnisse zur Bekämpfung von intersektionaler Diskriminierung, die Rechte von Frauen und die Inklusion von Menschen mit Behinderung noch stärker ausgearbeitet werden können. Dies ist nicht verwunderlich. Seit Beginn des Jahres wird die mangelnde Inklusivität des Prozesses kritsiert, da der Text für die politische Deklaration über weite Strecken hinter verschlossenen Türen ohne Teilnahmemöglichkeit für Zivilgesellschaft und betroffenen Gruppen verhandelt wurde.
Diese Kritik setzt sich bei der Gestaltung des Gipfels fort. In Doha gibt es vordergründig zwar sehr diverse Teilnahmemöglichkeiten, u.a. die Organisation von Side Events, den sogenannten „Solution Sessions“, eine Ausstellung im „Solution Square“ oder das Civil Society Forum. Allerdings ist unklar, welchen Impact die Zivilgesellschaft beim offiziellen Gipfeltreffen haben kann, da Round Tables vermutlich nur für Regierungsdelegationen zugänglich sein werden und das Civil Society Forum nach aktuellem Plan parallel zum offiziellen Gipfel stattfinden wird. Dies könnte dazu führen, dass kein echter Dialog entsteht, sondern die unterschiedlichen Interessensgruppen unter sich bleiben. Auch ist nicht abschließend geklärt, ob und wie die Beschlüsse und Forderungen des Civil Society Forums im offiziellen Bericht repräsentiert werden.
Erhebliche Zweifel an der Fähigkeit des Gipfels die Krisen unserer Zeit zu bewältigen bleiben
Angesichts der Angriffe auf den Sozialstaat in Deutschland und weltweit ist es ein wichtiges Signal, dass die Frage sozialer Entwicklung beim zweiten Weltsozialgipfel überhaupt wieder eine Bühne auf höchstem UN-Level erhält. Das zeigt sich auch daran, dass der Prozess in Deutschland inzwischen sichtbarer ist: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) begleitet die Vorbereitungen aktiv und es ist geplant, dass Bundesministerin für Arbeit und Soziales Bärbel Bas die deutsche Delegation in Doha anführt. Allerdings: wenn Deutschland glaubhaft Vorreiter beim Thema Sozialstaat sein will, dann muss es nicht nur den internationalen Prozess aktiv begleiten, sondern auch im eigenen Land zeigen, dass soziale Sicherheit, Inklusion und Menschenrechte Priorität haben.
Bisher konnten Rückschritte im Vergleich zu Kopenhagen 1995 oder zur Agenda 2030 zwar weitgehend verhindert werden, doch große, ambitionierte Sprünge in die Zukunft bleiben aus. Ein fortschrittlicher Ansatz wie ein neuer „Eco-Social-Contract“, welcher soziale Entwicklung mit ökonomischem Fortschritt und der Bewältigung planetarer Krisen verbindet, ist nicht erkennbar. Damit bleiben erhebliche Zweifel, ob der Gipfel tatsächlich dazu beitragen kann, die zentralen Herausforderungen unserer Zeit anzugehen. Besonders entscheidend wird sein, wie inklusiv der Prozess letztlich ausgestaltet ist. Ohne echte Beteiligung und Mitsprache der Betroffenen – insbesondere von Frauen, älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen, Migrant*innen und weiteren vulnerablen Gruppen – werden die beschlossenen Maßnahmen kaum auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sein und Gefahr laufen, an Wirksamkeit zu verlieren.