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Von Jens Martens
Vom 27. Mai bis 1. Juni 2024 fand in Genf die 77. Weltgesundheitsversammlung statt. Sie ist das oberste Entscheidungsgremium der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und tritt einmal im Jahr für eine Woche zusammen. Auf der Tagesordnung der 194 Mitgliedstaaten stand unter anderem die Verabschiedung eines globalen Pandemieabkommens, über das in den vergangenen zweieinhalb Jahren intensiv verhandelt worden war. Mit ihm wollten die Regierungen Lehren aus COVID-19 ziehen und für die Prävention, Vorsorge und Bekämpfung zukünftiger Pandemien besser gewappnet sein. Außerdem sollten Ergänzungen zu den Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) beschlossen werden, über die parallel verhandelt worden war. Sie sind die bislang einzigen völkerrechtlich bindenden Regularien der WHO, um die grenzüberschreitende Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern oder einzudämmen. Während in den hitzigen Verhandlungen über ein globales Pandemieabkommen kein Konsens erzielt werden konnte, kam es in den Verhandlungen über die aktualisierten IGV zu einer überraschenden Einigung. Über das Pandemieabkommen soll nun in den nächsten Monaten nachverhandelt werden, um es spätestens bei der Weltgesundheitsversammlung 2025 verabschieden zu können.
Unüberbrückbare Interessengegensätze
Das Vorhaben, innerhalb von gut zwei Jahren ein weltweit gültiges Pandemieabkommen auszuhandeln, war äußerst ambitioniert, denn die WHO betrat mit einem solchen völkerrechtlich verbindlichen Instrument weitgehend Neuland. Sie hat bislang lediglich ein vergleichbares Abkommen verabschiedet, das Rahmenübereinkommen zur Eindämmung des Tabakgebrauchs (Framework Convention on Tobacco Control, FCTC), das 2005 in Kraft trat. Es diente nun als Präzedenzfall für das auszuhandelnde Pandemieabkommen.
Die Verhandlungen begannen im extra für diesen Zweck eingesetzten Zwischenstaatlichen Verhandlungsgremium (Intergovernmental Negotiating Body, INB) im Februar 2022 und vollzogen sich in neun Runden. Ursprüngliches Ziel war es, das fertige Pandemieabkommen auf der 77. Weltgesundheitsversammlung im Mai 2024 zu verabschieden. Dies erwies sich als nicht realistisch, denn die Positionen der Regierungen und ihre „roten Linien“ bei den Verhandlungen lagen in zentralen Themenbereichen weit auseinander. Das betrifft u.a. den One Health-Ansatz, der das Zusammenspiel der Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt in den Blick nimmt, die vorgesehenen Transparenz- und Berichtspflichten, den gerechten Zugang zu medizinischen Gütern, die geistigen Eigentumsrechte, den gerechten Vorteilsausgleich für das Teilen genetischer Ressourcen von Krankheitserregern (Pathogen Access and Benefit-Sharing, PABS) und die Schaffung eines nachhaltigen Finanzierungsmechanismus.
Das Leitmotiv, das sich wie ein roter Faden durch die Verhandlungen zog, war der Begriff der Gerechtigkeit (Equity). Der Entwurf des Abkommens nennt Equity als eines seiner Grundprinzipien, das zentrale Kapitel des Abkommens (Kapitel 2) steht unter der Überschrift „The world together equitably: Achieving equity in, for and through pandemic prevention, preparedness and response“. In der Interpretation des Gerechtigkeitspostulats unterscheiden sich die Positionen der Regierungen aber gravierend.
Die EU und die USA betonten vor allem die gemeinsamen Pflichten zur Überwachung, zum Informationsaustausch und zur uneingeschränkten Bereitstellung wissenschaftlicher Daten über Krankheitserreger. Diese Informationen sind für die Pharmaindustrie zur Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten von zentraler Bedeutung. Es überraschte daher nicht, dass die internationale Pharmalobby, die bei den Verhandlungen durch die International Federation of Pharmaceutical Manufacturers and Associations (IFPMA) vertreten ist, vor allem auf den ungehinderten Informationszugang drängte und gleichzeitig die strikte Wahrung des Schutzes von geistigem Eigentum und Patenten forderte.
Für die Länder des Globalen Südens bedeute Equity dagegen vor allem den ungehinderten Zugang zu medizinischen Gütern, effektive Regeln für den Wissens- und Technologietransfer und einen verbindlichen globalen Finanzierungsmechanismus. Diese Forderungen wurden besonders vehement von der Group for Equity vertreten, in der sich speziell für die Pandemieverhandlungen 29 Länder zusammengeschlossen haben, darunter Brasilien, China, Indonesien, der Iran und Südafrika.
Besonders strittig waren am Anfang die Fragen des Patentschutzes, die schon bei den Bemühungen um eine gerechtere Verteilung von COVID-19-Impfstoffen im Zentrum standen. Die Länder des Globalen Südens machen sich dafür stark, im Falle einer Pandemie den Patentschutz für relevante Impfstoffe, Medikamente, Diagnostika und medizinische Geräte vorübergehend aufzuheben. Dies soll, wie schon bei der COVID-19-Pandemie gefordert, durch eine Ausnahmegenehmigung (Waiver) im Rahmen des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) der Welthandelsorganisation (WTO) geschehen. Die USA, die EU und Großbritannien verwiesen dagegen auf die alleinige Zuständigkeit der WTO und signalisierten frühzeitig, dass sie in dieser Frage zu keinem Entgegenkommen bereit seien. Offensichtlich schluckten die Länder des Globalen Südens diese Kröte und konzentrierten sich in den weiteren Verhandlungen auf Fragen der Finanzierung und des gerechten Vorteilsausgleichs.
Dreh- und Angelpunkt der Verhandlungen war das im Fachjargon als PABS (Pathogen Access and Benefit-Sharing) bezeichnete System des gerechte Vorteilsausgleichs für das Teilen genetischer Ressourcen von Krankheitserregern. Die Länder des Globalen Nordens forderten, nicht zuletzt auf Druck ihrer Pharmaunternehmen, ungehinderten Zugang zu Informationen über Erregerproben und genomische Sequenzdaten. Die Länder des Globalen Südens wollen diese Informationen jedoch nicht ohne Gegenleistung aus der Hand geben. Sie befürchten, dass sie ansonsten zwar die wissenschaftlichen Informationen zur Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten weitergeben, im Gegenzug aber keinen Zugang zu diesen lebensrettenden Ressourcen erhalten. Aus diesem Grund ist in Artikel 12 des Abkommensentwurfs ein ausgefeiltes System des Vorteilsausgleichs (WHO PABS System) vorgesehen. Das PABS-System soll einerseits den weltweiten Austausch von Proben und Daten sicherstellen und andererseits den gerechten Zugang zu pandemiebezogenen Produkten (wie z.B. Impfstoffen) gewährleisten. Unter anderem sollen die Hersteller verpflichtet werden, „bis zu“ oder „mindestens“ 20 Prozent ihrer pandemiebezogenen Produkte der WHO zur weiteren Verteilung zur Verfügung zu stellen. Eine Einigung über diesen Artikel wurde trotz tagelanger Nachtverhandlungen nicht erreicht.
Ähnliches gilt für die Passagen des Abkommens, die sich mit der Finanzierung befassen. Ursprünglich hatten vor allem die Länder des Globalen Südens einen neuen Finanzierungsmechanismus gefordert, der die Bereitstellung von „angemessenen, zugänglichen, neuen, zusätzlichen und vorhersehbaren Finanzmitteln“ gewährleisten sollte (so noch die Formulierung im Entwurf des Pandemieabkommens vom Oktober 2023). Er sollte sich vor allem aus jährlichen Beitragszahlungen der Vertragsparteien des Abkommens und Zahlungen der Hersteller pandemiebezogener Produkte im Zusammenhang mit dem PABS System speisen. Die USA und die EU waren strikt gegen einen neuen Finanzierungsmechanismus, und erst recht gegen einen, der sich aus Pflichtbeiträgen speisen sollte.
Stattdessen einigte man sich im Grundsatz lediglich auf einen Koordinierenden Finanzmechanismus (Coordinating Financial Mechanism), der in erster Linie Finanzierungsbedarfe und -lücken ermitteln und zusätzliche freiwillige Beiträge mobilisieren sollte. Eine endgültige Einigung konnten die Regierungen in den Verhandlungen über das Pandemieabkommen aber auch dazu nicht erzielen. Bemerkenswerterweise gelang dies aber, quasi durch die Hintertür, im Rahmen der parallelen Verhandlungen über die Aktualisierung der Internationalen Gesundheitsvorschriften.
Parallelverhandlungen über die Internationalen Gesundheitsvorschriften
Nahezu gleichzeitig mit dem Beginn der Verhandlungen über ein Pandemieabkommen entschieden die WHO-Mitgliedsstaaten auch, die Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) der WHO zu aktualisieren, die zuletzt 2005 überarbeitet worden waren. Die IGV bilden die völkerrechtliche Grundlage für die Bekämpfung grenzüberschreitender Infektionskrankheiten, befassten sich aber bisher vor allem mit technischen Fragen der Überwachung, der Meldepflicht und des Informationsaustauschs. Während der COVID-19-Pandemie hatten sie sich als unzureichend erwiesen.
Manche Gesundheitsexpert*innen waren der Ansicht, dass eine Aktualisierung der IGV ausreichen würde und ein zusätzliches Pandemieabkommen nicht notwendig sei. Die Mehrheit war aber überzeugt, dass ein Pandemieabkommen über die thematische Reichweite der IGV hinausginge und deshalb einen added value bringen würde. Deshalb entschieden die WHO-Mitglieder letztlich, beides zu tun und sowohl über die Aktualisierung der IGV als auch über ein Pandemieabkommen zu verhandeln. Die Parallelprozesse bedeuteten sowohl für viele Mitgliedsstaaten als auch für zivilgesellschaftliche Organisationen eine besondere Herausforderung und machten eine intensive Begleitung beider Prozesse fast unmöglich. So vollzogen sich die IGV-Verhandlungen eher im Schatten der Verhandlungen über das Pandemieabkommen. Möglicherweise erleichterte dies eine Einigung.
Auf jeden Fall gelang es, die überarbeiteten IGV am letzten Tag der 77. Weltgesundheitsversammlung zu verabschieden, was von manchen Beobachter*innen als Sieg des Multilateralismus gefeiert wurde. Die neuen IGV enthalten erstmals die Definition eines „Pandemie-Notfalls“. Dies sei ein Notfall im Bereich der öffentlichen Gesundheit von internationalem Interesse, der durch eine übertragbare Krankheit verursacht wird und 1) eine weite geografische Ausbreitung in und innerhalb mehrerer Staaten habe, 2) die Fähigkeit der Gesundheitssysteme in diesen Staaten zur Reaktion übersteige, 3) erhebliche soziale und/oder wirtschaftliche Störungen verursache und 4) ein rasches, angemessenes und verstärktes koordiniertes Handeln auf globaler Ebene erfordere.
Die neuen IGV betonen auch die Verpflichtung zu Solidarität und Gerechtigkeit bei der Reaktion auf einen internationalen Gesundheitsnotstand (Public Health Emergency of International Concern, PHEIC), unter anderem durch den verbesserten Zugang zu medizinischen Produkten und einen neuen Koordinierenden Finanzierungsmechanismus (s.o.).
Der neue Koordinierende Finanzierungsmechanismus soll generell die Bereitstellung rechtzeitiger, vorhersehbarer und nachhaltiger Finanzmittel auch in Pandemiefällen stärken, die Verfügbarkeit von Finanzmitteln maximieren und neue und zusätzliche Finanzmittel mobilisieren. Dieser Beschluss ist einerseits so weitreichend, dass er von den Ländern des Globalen Südens akzeptiert wurde, andererseits aber so vage gehalten, dass ihm auch die EU und die USA zustimmen konnten. Als positiv bewerteten Gruppen aus dem Globalen Süden, beispielsweise das Third World Network, dass der neue Finanzierungsmechanismus unter Leitung der Weltgesundheitsversammlung arbeiten solle und ihr gegenüber rechenschaftspflichtig sei. Außerdem soll ein neuer Ausschuss der Vertragsstaaten eingerichtet werden, der die Umsetzung der IGV und ihre Finanzierung begleitet. Damit behalten die Mitgliedsstaaten das Heft des Handelns in der Hand.
Es ist bemerkenswert, dass sowohl viele Vertreter*innen aus dem Globalen Süden als auch Sprecher*innen der EU und der USA die neuen Gesundheitsvorschriften als Erfolg ansehen. Die Europäische Kommission nennt die Vereinbarung in einer Pressemitteilung „einen bedeutenden Fortschritt in der Zusammenarbeit von Ländern auf der ganzen Welt, um sich auf große Gesundheitsbedrohungen vorzubereiten und auf sie zu reagieren.“ Ähnlich zuversichtlich erklären dieUSA, dass das neue Paket von IGV-Änderungen und die fortgesetzte Arbeit an dem Pandemieabkommen positive Auswirkungen für die kollektive Pandemievorsorge und -bekämpfung haben werden. Bangladesch bezeichnet die Verabschiedung der neuen IGV als „historischen Moment“. Pakistan hebt insbesondere die neuen Regelungen zum Zugang zu medizinischen Produkten und den Koordinierenden Finanzmechanismus positiv hervor. Lediglich die Slowakei hat angekündigt, die IGV-Ergänzungen abzulehnen. Einige andere Staaten wie der Iran, Russland und Argentinien haben Vorbehalte angemeldet.
Wie geht es weiter?
Die 196 Vertragsstaaten der IGV (die 194 WHO-Mitglieder sowie der Vatikan und Liechtenstein) haben nun 12 Monate Zeit, um gegenüber der WHO mögliche Vorbehalte gegen die neuen Gesundheitsvorschriften zu erklären. Wie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages erläutert, sind die Internationalen Gesundheitsvorschriften als völkerrechtliches Sekundärrecht zwar gegenüber, nicht aber automatisch in den WHO-Mitgliedstaaten verbindlich. Anders als ein völkerrechtliches Abkommen müssen sie nicht durch die Zustimmung der nationalen Parlamente ratifiziert werden. Innerhalb von 12 Monaten nach Verabschiedung der neuen IGV hat jedes Mitgliedsland grundsätzlich eine „opting out“-Möglichkeit. Wenn diese nicht genutzt wird, gelten die IGV für die jeweiligen Länder automatisch. Sie müssen aber durch einen nationalen Rechtsakt noch „transformiert“ werden, um auf nationaler Ebene Wirkung zu entfalten.
Auch das geplante Pandemieabkommen ist nicht vom Tisch. Da der angestrebte Konsens bis zur 77. Weltgesundheitsversammlung nicht gelang, müssen die Staaten nun „nachsitzen“. Sie verlängerten in einer Resolution das Mandat des INB um maximal ein Jahr, um eine Einigung so schnell wie möglich zu erzielen und das Abkommen spätestens bei der 78. Weltgesundheitsversammlung im Mai 2025 zu verabschieden. Falls eine Einigung noch in diesem Jahr gelingt, soll das Abkommen im Rahmen einer Sondersitzung der Weltgesundheitsversammlung noch 2024 verabschiedet werden. Die nächste Sitzung des INB zur Planung des weiteren Verhandlungsverlaufs (INB10) soll am 16. und 17. Juli 2024 stattfinden.
Wichtig wird in den nächsten Monaten sein, dass die zivilgesellschaftlichen Vertreter*innen, die den Verhandlungsprozess begleiten, einen langen Atem behalten. Denn die Pharmaindustrie wird mit ihrem Lobbyverband, der IFPMA, sicherlich ebenso aktiv bleiben, wie das krude Bündnis von Impfgegner*innen, Verschwörungsgläubigen und Rechtsradikalen unterschiedlichster Couleur, die schon in den letzten Monaten mit Falschmeldungen gegen das geplante Abkommen mobilisiert haben. Unter dem Slogan Road to Geneva People’s Convoy demonstrierten sie am 1. Juni 2024 vor dem Palais des Nations, dem Tagungsort der Weltgesundheitsversammlung, gegen das Pandemieabkommen und erklärten „ihre Unabhängigkeit von der WHO“.
Umso wichtiger werden das kritische Monitoring, aber auch die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen für die multilateralen Verhandlungen unter dem Dach der WHO sein. Denn einig sind sich (fast) alle in einem: Die Frage ist nicht, ob es eine nächste globale Pandemie gibt, sondern nur, wann – und wie gut die Staatengemeinschaft dann für sie gewappnet ist.
Link zum aktuellen Entwurf des Pandemieabkommens (WHO-Dokument A77/10)
Link zur Neufassung der Internationalen Gesundheitsvorschriften (WHO-Dokument A/77/9)
Webseite der 77. Weltgesundheitsversammlung